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Stress im Phantasialand und wofür Bänke so alles gut sein können

Letzte Woche waren wir mit Tonis Kindern eine Woche in Deutschland zu Besuch bei meiner Familie. Der Auftakt der Ferien war der von den Kindern lang erwartete Besuch des Freizeitparks Phantasialand.

Wir versuchten, beide Kinder zufrieden zu stellen. Und es gab Tränen der Enttäuschung, wenn ein Kind zu klein war für ein bestimmtes Karussel, es gab ewige Warteschlangen, lange Wartezeiten, die Papa und Tochter allein verbrachten auf Sohn und mich wartend bei den spannenderen Karussells. Gegen Ende des Tages freuten wir uns alle vier auf die Wildwasserbobbahn. Wir hatten vor, alle zusammen mit dieser Bahn zu fahren. Als wir schliesslich an der Bahn ankamen und das Mädchen sah, wie die Fahrt sein würde, wurde sie von ihrer Angst übermannt und sagte, dass sie doch nicht mitfahren würde. Das bedeutete, dass Tonis Sohn und ich wiederum allein fahren müssten, während Papa und Schwester auf uns warten würden.

Da bekam der ältere Bruder einen Wutanfall und liess sich nicht beruhigen. Auch die Aussicht, dass sein Vater oder ich mit ihm allein fahren würden, stimmte ihn nicht milder.

Während wir also versuchten, uns zu organisieren, was nun zu tun sei etc., sagte mir mein Partner, ich solle seinem Sohn etwas Zeit geben und einfach weitergehen, egal ob er mitkomme oder nicht. Das konnte ich nicht. Hunderte von stressvollen Gedanken schossen mir durch den Kopf. Ich wollte unbedingt, dass der Junge glücklich ist und einen guten Abschluss im Phantasialand bekommen sollte. Auf meinen Versuch hin, ihn umzustimmen und wenigstens mit mir zu fahren, reagierte er trotzig und sprach zunächst kein Wort mit mir. Als ich nicht locker ließ, sagte er, er würde nun nirgendwo mehr hingehen und sein Vater machte Anstalten, ihn einfach da stehen zu lassen, was ich nicht übers Herz brachte. Ich insistierte weiter und holter die Polter waren Sohnemann und ich in einen Streit verwickelt, der immer lauter wurde. Es gab bei uns beiden kein zurück mehr. Der gefühlte Höhepunkt für mich war, als mir der Junge dann sagte, dass er sehr bereue, überhaupt mit uns in den Urlaub gefahren zu sein, und da brannten bei mir die Sicherungen durch.

Am liebsten hätte ich alle drei da stehen gelassen und wäre allein weggegangen. Raus aus dem Park, raus aus allem, zurück in mein Singleleben ohne alle diese Streits. Mir war nur noch zum Weinen. Ich war enttäuscht und frustriert.

Wir gingen also weiter, ich suchte Abstand und merkte, dass ich mich nicht mehr kontrollieren konnte. Also sagte ich meinem Partner, dass ich Zeit für mich brauchte, um mich zu beruhigen und sie sollten schon einmal vorgehen.

Ich fand eine Bank, auf der nahm ich Platz und die Tränen liefen. Ich versuchte mich zu sortieren und wurde von den vielen, schnellen Gedanken, die mir durch den Kopf schossen, überrannt.

Seit einigen Jahren arbeite ich als Coach mit The Work of Byron Katie, eine Methode, die hilft, den Grund für unseren Stress zu finden und zu identifizieren und anschliessend aufzulösen. “Also gut”, dachte ich, “es hilft anscheinend nichts, also schreibe die Gedanken auf, unter denen Du leidest.” Ich fand in meiner Handtasche einen Kugelschreiber und in meinem Portemonai einen Kassenbon. Auf der Rückseite schrieb ich folgenden Text – der nach einem bestimmten Schema aufgebaut ist. Dieses Schema heisst “Arbeitsblatt Urteile über Deinen Nächsten.” Ich begann also meine Urteile auf die Rückseite des Kassenbons zu schreiben und kam mir ziemlich bescheuert vor, dass ich als ausgebildeter Coach und Trainerin nun im Phantasialand allein auf einer Bank saß, um mich herum lauter Familien, und bei mir die Tränen liefen.

Ich schrieb:

1.     Ich bin sauer auf Toni junior, weil er so ungeduldig ist.
2.     Ich will von Toni junior, dass er geduldiger ist, dass er erst reflektiert, dass er nicht so ausrastet, dass er mit sich reden lässt.
3.     Toni sollte verstehen, dass Menschen ihre Reaktionen nicht kontrollieren können, er sollte nicht so verletzend sein, er sollte nicht nur schwarz oder weiss sehen.
4.     Ich brauche von ihm, dass er anders ist als er ist, dass er zugänglicher ist, dass er mit sich reden lässt.
5.     Er ist brutal, uneinsichtig, verletzend, hasserfüllt, undankbar, ein Arsch
6.     Ich will nie wieder erleben, dass er so ausflippt und mir sagt, dass er bereut, mit uns in den Urlaub gefahren zu sein.

Nachdem ich nun erst einmal einen Teil der Gedanken, die meine Wut auslösten identifiziert und aufgeschrieben hatte, workte ich nun den ersten Gedanken, den ich aufgeschrieben hatte.. Worken heisst, Gedanken hinterfragen und neue Perspektiven gewinnen.

Der erste Gedanke: Er ist so ungeduldig.

Hier kommen die vier Fragen von Byron Katie:

1.     Ist das wahr?

Ja.

2.     Er ist so ungeduldig. Kannst Du absolut sicher wissen, dass das wahr ist?

Ja.

3.     Wie reagierst du und was passiert, wenn du diesen Gedanken glaubst?

Ich verurteile ihn, verachte ihn, ich finde ihn abstossend, schrecklich, unerträglich, ich bin stinksauer auf ihn, möchte am liebsten weglaufen und ihn nicht mehr sehen, ihn schütteln und anschreien und sagen, dass das so nicht geht, gleichzeitig schäme ich mich für all diese Gedanken und Gefühle, glaube, ich sollte weiter sein, zweifle an mir und verurteile mich selbst, fühle mich als Opfer seiner Launen, bin innerlich hart und mein Herz ist verschlossen wie eine Auster.

4.     Wer bist du in der gleichen Situation ohne den Gedanken, dass er so ungeduldig ist?

Ich wäre ruhiger, würde mir mehr Zeit lassen und nicht so schnell auf alles reagieren, würde mehr beobachten, würde nicht all diese Gedanken einfach für wahr halten, ich wäre verständnisvoller, könnte dem Jungen seinen Ärger und seine Wut lassen, ich könnte differenzieren, dass seine Wut ja nichts mit mir zu tun hat, würde das ganze Geschehen nicht persönlich nehmen, würde ihm Zeit lassen, warten, bis er bereit ist, wieder im Kontakt zu sein. Ich wäre ein freundlicher, erwachsener, liebevoller Mitmensch.

Nun kehren wir den ursprünglichen Gedanken um.

Aus: Er ist ist ungeduldig wird:

1.     Die Umkehrung ins Gegenteil. Er ist nicht so ungeduldig.

Nun finde ich 3 Beispiele, warum das auch wahr ist:

1.     Er stand einfach nur zurückgezogen da und wollte seine Ruhe haben. Er war defensiv.
2.    Er hat nicht begonnen, mich zu attackieren.
3.    Er hat auf mein Nachbohren, einfach gar nicht geantwortet und mich nicht angeschrien.

2.     Umkehrung: Umkehrung zu mir selbst: Ich bin so ungeduldig.

Ja, das stimmt total.

1.     Ich bin auf ihn zugegangen, obwohl sein Vater mir gesagt hatte, ich solle ihm Zeit lassen.
2.    Ich habe nicht locker gelassen, bis der Junge dann explodiert ist und Dinge gesagt hat, die ich mich sehr zu Herzen genommen habe, wie z.B., dass er bereue, mit uns in den Urlaub gefahren zu sein.
3.     Ich erwarte von diesem 12-Jährigen, dass er geduldig und besonnen ist, obwohl ich mich mit meinen 40 Jahren in dem Moment nicht im Griff hatte.

Man könnte hier noch weitere Umkehrungen finden – ich hatte nur Zeit für diese beiden, denn dann stand auf einmal meine Familie vor mir. Das Mädchen schaute mich mit ihren großen, braunen Kulleraugen an und bat mich, nun wieder mitzukommen. Das erweichte mein Herz, ich ging also mit, hielt erst noch Abstand, denn das Ganze war mir unangenehm und peinlich.

Nachdem ich meinen Anteil an dem ganzen Schlamassel gesehen hatte, spürte ich das Bedürfnis, es wieder gut zu machen, mich bei Toni j. zu entschuldigen. Byron Katie sagt: “Make it right whenever you can.” (Mache es wieder gut, wann immer Du kannst.)

Also fasste ich mir ein Herz, ging etwas schneller und kam neben Toni j. an. Ich hatte Angst, dass er mich abweisen oder ignorieren könnte, wenn ich ihn ansprechen würde. Ich nahm die Befürchtung wahr und gab mir einen Schubs und sagte: “Toni, es tut mir sehr leid, dass ich eben so unfreundlich mit Dir gesprochen habe. Kannst Du mir verzeihen?” Da schaute er mich an und sagte: “Ja, Du mir auch?”

Damit hatte ich nicht gerechnet. Und das rührte mich zu Tränen. “Ja, natürlich.” sagte ich und “weisst Du, ich wollte so gern, dass Du eine gute Zeit hast hier und ich konnte es nicht ertragen, dass Du so enttäuscht warst.” Und er sagte: “Weisst Du, und ich wollte einfach nur, dass wir alle vier zusammen etwas machen.”

Das haute mich wiederum um, denn alles, was ich ihm unterstellt hatte, war nicht wahr. Ich hatte ihm unterstellt, dass er egoistisch ist und immer Recht haben will und noch viele andere unschöne Sachen und die Wahrheit war: Dieser Junge war so enttäuscht, dass wir nicht zu viert in die Bahn gingen, dass er seine Enttäuschung nicht kontrollieren konnte und einen Wutanfall bekam. Das rührte mich sehr und ich lernte, dass unter Wut oft sehr rührende Wahrheiten stecken, und es sich lohnt, sich die Zeit zu nehmen, die Wahrheit heraus zu finden.

Und ich erinnerte mich an ein anderes Zitat von Byron Katie: „Die Wirklichkeit ist immer freundlicher als die Geschichte, die wir darüber erzählen.“

Ach so, und dann habe ich mich noch getraut, ihm zum ersten Mal in drei Jahren zu sagen: “Ich habe Dich wirklich lieb.” Und er lief lachend davon und spielte mit seiner Schwester den ganzen Tag ohne sich weiter zu streiten…

Foto: Cerstin Deppe-Dingeldey

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Unverschämtheiten und andere Irrtümer – Die gelebte Umkehrung

Am Ende einer Coachingsitzung fragen manche Klienten/innen: „Was mache ich denn nun mit der Erkenntnis?“ Oft sage ich: „Gar nichts.“ Denn in meiner Erfahrung integriert sich eine neue Erkenntnis von allein in mein Leben, wenn es eine wirkliche Erkenntnis war. Wenn ich mit einem/r Klienten/in worke, was bedeutet, dass wir Gedanken auf ihren Wahrheitsgehalt hin überprüfen, erkennen die Klienten/innen oft, dass das, was anfangs so wahr erscheint, gar nicht so wahr ist, und dass das Gegenteil oft mindestens genauso wahr ist, wenn nicht wahrer. Und gleichzeitig ist es in meiner Erfahrung so hilfreich und heilend, Prozesse nicht nur im Kopf stattfinden zu lassen, sondern das Verstandene oder Erkannte in die Praxis umzusetzen.

Das kann leicht an einem Beispiel verdeutlicht werden. Neulich hatte ich eine heftigere Auseinandersetzung mit der Tochter meines Partners. Wir leben nun seit 14 Monaten zusammen, sie ist 9, ich 40. Beim Spielen mir ihrer Cousine hatte sie sich weh getan und lief auf Strümpfen brüllend aus dem Haus, um ihren Vater zu suchen. Der war gerade mit dem Trecker unterwegs und hörte ihr Kreischen nicht. Ich ging hinterher, rief sie und wollte schauen, was ihr weh tat. Sie war nicht zu beruhigen, kreischte immer nur „Papa, Papa“ und wurde immer wütender. Ich sah, dass ihr Körper unversehrt war und versuchte, ihr zu erklären, dass ihr Vater gerade nicht hier sei. Sie liess sich nicht von mir beruhigen, schmiss sich auf den Boden, rannte weiter auf Strümpfen über den Acker. Langsam wurde ich ärgerlich, ich bat sie mehrmals, mit mir ins Haus zu kommen und sich Schuhe anzuziehen. Sie war immer noch ausser sich. Schliesslich hob ich sie hoch, und sie trampelte und schrie. Ich setzte sie wieder hinunter und ging wütend ins Haus. Sie kam nicht mit, und ich fuhr mit ihrer Cousine davon, da ich einen Termin hatte und ihrer Tante versprochen hatte, ihre Tochter zu ihr bringen. Lange Geschichte… das Ende vom Lied war, dass ich wahnsinnig wütend war und eigentlich gar nicht genau wusste, warum.

Ich traf mich mit einer Freundin in Palma, wir hatten ein schönes Abendessen und irgendwann erreichte mich eine Whatsupnachricht der Tochter meines Partners. Sie schrieb: „Ich verzeihe Dir.“ Und: „Es tut mir leid, ich wollte mich nicht so aufregen.“ Ich antwortete ihr, dass alles in Ordnung sei und bedankte mich für ihre Entschuldigung. Im Auto nahm ich mir dann Zeit genauer hinzuschauen. Welche Gedanken hatten meine starke Wut ausgelöst? Da tauchten sie auf: „Sie ist ein Papakind, sie will nichts von mir wissen, sie ist eine Zicke, das wird nicht gut gehen mit ihr und mir, sie sollte sich von mir trösten lassen, sie macht aus einer Mücke einen Elefanten, sie ist eine Dramaqueen, sie will immer im Mittelpunkt stehen, sie ist unverschämt mir gegenüber….“

Ich untersuchte den Gedanken „Sie ist unverschämt mir gegenüber.“ Das bezog sich auf den ersten Satz ihrer Whatsupnachricht: „Ich verzeihe Dir.“ Ich war immer noch wütend und in meiner Welt sollte sie mich um Verzeihung bitten und in meiner Welt hatte sie mir nichts zu verzeihen. Am Ende des Prozesses stellte ich fest, dass sie viele Gründe hatte, mir zu verzeihen. Ich sah, wie ich sie gegen ihren Willen hochgehoben habe. Ich sah, wie ich unheimlich wütend auf sie wurde und mit dieser Wut nicht in der Lage war, ruhig auf sie einzugehen, ich sah, wie ich ein Kräftemessen mit ihr begann und es um „meine“ Position im Vergleich zu Papa ging… Es gab also wirklich einiges zu verzeihen von ihrer Seite und ich empfand Demut, dass sie mir das mit ihren 9 Jahren beigebracht hat.

Die gelebte Umkehrung ist ein Bestandteil von The Work of Byron Katie. Byron Katie nennt es „The living turnaround“. In meinem Fall wurde aus „Sie ist unverschämt mir gegenüber.“ meine gelebte Umkehrung: „Ich bin unverschämt ihr gegenüber.“ Um von der Erkenntnis nun ins Tun kommen, vereinbarte ich mit mir selbst, jeden Tag drei Beispiele zu finden, woran ich erkennen konnte, dass ich ihr gegenüber unverschämt gewesen bin. Diese drei Beispiele schreibe ich mir auf. So unterstütze ich meinen Verstand dabei, diese neue Sicht noch mehr zu integrieren. Und ich habe festgestellt, dass es besonders nachhaltig ist, diese gelebten Umkehrungen mit anderen Menschen zu teilen, Und dafür möchte ich dir hier die Gelegenheit geben: Wenn du auch gerade eine Umkehrung lebst oder leben möchtest, kannst du hier deine Beispiele teilen. Ich fange mal an:
1. Beispiel: Ich bin unverschämt ihr gegenüber, wenn ich insgeheim erwarte, dass sie mich behandelt wie ihren Papa.
2. Beispiel: Ich bin unverschämt ihr gegenüber, wenn es mir nur darum geht, was „meine“ Position ist und keine Kapazität habe, bei ihr zu sein, da ich innerlich so mit meinem Ego beschäftigt bin.
3. Ich bin unverschämt ihr gegenüber, wenn ich sogar an ihrer Entschuldigung etwas auszusetzen habe, statt einfach dankbar dafür zu sein.

Viel Freude beim Entdecken!

Lieben Gruß

Kerstin